Verkehrswende in Schleswig-Holstein. Oder: Wie man einen Zukunftsdialog initiiert.
Die Verkehrswende ländlicher Regionen ist ein Innovationsfeld, das bislang brach liegt. Das Augenmerk von Verkehrsplanern, Dienstleistern und politischen Entscheidern liegt auf dem Stadtverkehr. Schade. Denn ländliche Regionen haben das Potenzial, zu echten Innovationstreiber zu werden. Wie aber startet man einen Zukunftsdialog, um dieses Potenzial zu heben.
Schleswig-Holstein hat vor allem eines: sehr viel Platz. Mit 182 Einwohnern je Quadratkilometer liegt es knapp unter dem Bundesdurchschnitt – aber noch deutlich über dem von etwa Brandenburg. Allerdings konzentrieren sich die Bewohner auf die drei regionalen Wirtschaftszentren Kiel, Lübeck und Flensburg sowie den Hamburger Speckgürtel, der weit in das Bundesland hineinreicht. Schleswig-Holstein ist ein Land von Pendlern. Die Distanzen sind lang und sie werden länger, je ländlicher es wird. Wer hier auf den Bus wartet, wartet lang. Das eigne Auto ist alternativlos.
Während die Metropolen der Republik langsam aber sicher zu Experimentierräumen für neue Mobilitätskonzepte werden, schlägt sich das Land mit ganz basalen Herausforderungen herum: Wie lässt sich zumindest ein Minimum an Versorgung sicherstellen? Nun, das ist kein Nischenthema. Denn Deutschland besteht nicht nur aus Berlin, Köln oder München, sondern vor allem aus ganz viel Land. Wer verstehen will, vor welchen Herausforderungen die Verkehrswende hierzulande steht, sollte einen genauen Blick auf das Land ganz im Norden werfen. Das haben wir im Auftrag der EKSH Gesellschaft für Energie und Klimaschutz Schleswig-Holstein aus Kiel getan. Und es ist Erstaunliches dabei herausgekommen. Auch Dank einer außergewöhnlichen Methodik, die wir analog und digital ein- und umgesetzt haben.
Dialog statt Glaskugel – das Studiendesign
Wer etwas über die Zukunft erfahren will, muss die Richtigen fragen – und vor allem richtig fragen. Seit den 50er Jahren hat sich die Delphi-Methode dafür fest etabliert. Das Setting ist simpel: ein gut besetztes Expertenpanel, zwei Befragungsrunden. Die Ergebnisse der ersten Runde werden in der zweiten gespiegelt und die Fragen wiederholt. Das Vorgehen soll – Schwarmintelligenz sei Dank – die Qualität von Zukunftsprognosen deutlich verbessern. Aber stimmt das? Oder wird lediglich konformes Antwortverhalten gefördert? Kommen Prognosen durch Gruppenzwang zustande? Der Verdacht liegt nahe.
Wir haben für dieses Problem eine Lösung entwickelt und das Design konsequent auf Dialog ausgerichtet. So wurde die Studie von Beginn an eng durch ein Gremium aus Spezialisten begleitet, das sowohl an der Entwicklung des Fragebogens als auch an der Ergebnisanalyse maßgeblich mitgewirkt hat. Statt also die Teilnehmer in der zweiten Runde mit unkommentierten Ergebnissen zu konfrontieren, wurden gemeinsam mit dem Gremium Zukunftshypothesen formuliert, die vom Panel nicht nur bewertet, sondern persönlich – bei Bedarf auch ausführlich – kommentiert werden konnten. Jeder Teilnehmer konnte so seine Einschätzung begründen. Und davon wurde reichlich Gebrauch gemacht. Damit ist der Diskursraum geöffnet.
Ein Innovationsthema platzieren
Das Delphi-Format eignet sich hervorragend, um Stakeholder unterschiedlicher Couleur in einen gemeinsamen Dialog einzubinden. Je mehr Austausch stattfindet, desto stärker die Auseinandersetzung und Identifikation mit dem Thema. Das schafft Aufmerksamkeit und bietet die Möglichkeit, die Verkehrswende als Innovationsthema zu platzieren – und zwar bei allen Akteuren von der Politik über Behörden, Verbände und bis zu den Unternehmen. Erfolgsfaktor dabei ist Transparenz. Wir verzichten auf jede Blackbox. Jede Aussage ist ein Diskussionsangebot – und dieser soll geführt werden. Und die Aussagen haben es durchaus in sich. Zusammengefasst zu zwölf Zukunftsthesen zeichnen sie ein sehr differenziertes Bild der Herausforderungen. So geht es um das Risiko ländlicher Regionen, weiter abgekoppelt zu werden, aber auch um die wirtschaftliche Chance, die eine Elektrifizierung des Verkehrs für Erzeugerregionen bietet. Thematisiert werden potenziell steigende Mobilitätskosten, aber auch die Reduktion der sozialen und ökologischen Folgekosten des motorisierten Individualverkehrs. Es geht um die Risiken durch marktfremde Akteure ebenso wie um die Chancen innovativer Geschäftsmodelle.
Vom Panel zu Community
So ist es das sprichwörtliche große Fass, das geöffnet werden muss, wenn ein Anliegen ins Bewusstsein rücken soll. Obwohl die EKSH im Bereich des Klimaschutzes beheimatet ist, haben wir bewusst einen breiten thematischen Zugang zur Verkehrswende gewählt und auch bei der Methodik darauf geachtet, keine inhaltliche Einschränkung vorzunehmen. Auf diese Weise entsteht ein Dialogfeld, auf dem sich ganz unterschiedliche Akteure begegnen können. Das Besondere daran: das Ergebnis des Prozesses ist offen.
Erste Ansätze sind bereits erkennbar, so haben wir die Präsentation der Ergebnisse gemeinsam mit der AGORA Verkehrswende im August in Kiel genutzt, einen ersten Schritt in Richtung zukünftiger Lösungen für die Mobilität der Zukunft zu wagen. Die veränderten Mobilitätsmuster der Nutzer, ein intensiverer Wissensaustausch der Akteure und Organisationen und eine Vernetzung über Sektoren-, Branchen- und kommunale Grenzen hinaus weisen den Weg dorthin. Die Zeichen stehen auf Vernetzung – vom Panel zu Community.
Die Studienergebnisse im Überblick
- Der Erfolg der Verkehrswende in Schleswig-Holstein entscheidet sich auf dem Land
- Schleswig-Holstein braucht eine Verkehrswende, die auf die spezifischen Bedürfnisse unserer Region zugeschnitten ist
- Die Verkehrswende ist der entscheidende Entwicklungsfaktor für die Zukunft ländlicher Regionen in Schleswig-Holstein
- Wenn die Verkehrswende gelingen soll, müssen die Interessen der Mobilitätsnutzer konsequent in den Mittelpunkt gerückt werden
- Neue Mobilitätsmuster dürfen nicht länger durch veraltete Infrastrukturen und eine einseitige Verkehrspolitik ausgebremst werden
- Eine zukunftsfähige Mobilität muss flexibler, individueller und vor allem digitaler werden
- Damit die Verkehrswende in Schleswig-Holstein gelingen kann, braucht sie verbindliche Ziele und eine tragfähige Strategie
- Eine erfolgreiche Verkehrswende braucht eine neue Kooperationskultur zwischen den Institutionen und den politischen Willen, sie durchzusetzen
- Die Mobilität der Zukunft in Schleswig-Holstein muss sozial verantwortlich gestaltet werden
- Das Gelingen der Verkehrswende ist für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Schleswig-Holsteins von elementarer Bedeutung
- Die Verkehrswende braucht Experimentierräume für die Entwicklung und Erprobung wegweisender Innovationen
- Innovationen im Mobilitätssektor brauchen neue Akteure mit frischen Ideen und Geschäftsmodellen
Die Studie wurde von 40° Labor für Innovation aus Kiel für die EKSH realisiert. Autoren der Studie sind der Zukunftsforscher Tim Volkmann und Change-/Innovationsberater Frederik Bernard.
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